CMD Konzept
Praxisgerechte Diagnose und Therapie
der Craniomandibulären Dysfunktion
Welche Rolle Funktionsstörungen in der Praxis spielen
"In meiner Praxis sind Funktionsstörungen ziemlich selten. Und die wenigen Betroffen kann ich gut mit einer Aufbissschiene behandeln." Diese Aussage könnte gut von mir selber stammen - aus der von Unkenntnis geprägten Anfangszeit meiner Praxis. Mittlerweile ist klar: Ein Großteil von Beschwerden und vor allem von Nachbeschwerden nach Behandlungen aller Art hat eine ausgeprägte funktionelle Komponente.
Und dafür gibt es gute Gründe. Das Kausystem steht im Mittelpunkt vieler Einflüsse: Es ist mit dem Ziel der Nahrungszerkleinerung primär auf Funktion ausgelegt, weshalb selbst kleinste Abweichungen zu einer Störung führen können. Es dient aber auch dazu, um Stress und Anspannung abzureagieren. Das Zähnefletschen vieler Tiere und das Bruxieren bei Pferden zeigen, dass es sich dabei um ein tief verankertes Verhaltensmuster handelt. Systemische Einflüsse, wie sie von Medikamenten oder Erkrankungen ausgehen können, betreffen von allen Muskelgruppen oft zuerst die Kaumuskulatur. Bei Frauen unterliegt das Kiefergelenk in mehrerlei Hinsicht hormonellen Einflüssen. Gleichzeitig finden im Kausystem wohl die meisten iatrogenen Veränderungen statt: Jede zahnärztliche Maßnahme hat prinzipiell das Potential, eine Irritation auszulösen.
Doch Funktionsstörungen werden nicht so häufig nachgewiesen, wie man es demnach erwarten würde. Zu einem wesentlichen Teil liegt das an den Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten der zahnmedizinischen Diagnostik. Zuerst zu den Schwierigkeiten: Jeder praktisch tätige Zahnarzt weiß, wie schwer es ist, eine Pulpitis oder apikale Ostitis zu diagnostizieren und sie von anderen Beschwerdebildern wie einer parodontalen Überlastung zu unterscheiden. Das gleiche gilt für heftige Schmerzen, die differentialdiagnostisch von einer Neuralgie abzugrenzen sind. Ausgesprochen schwierig ist es auch, die Bisssituation eines Patienten zu erfassen: Während im Mund der Biss völlig unauffällig zu sein scheint, kann bei einer Modellanalyse eine deutliche Abweichung der Bisslage sichtbar werden. Selbst eine einzelne Krone, die durch Abrasion der kunststoffgefüllten Nachbarzähne als Störung imponiert, lässt sich in der zahnärztlichen Untersuchung oft kaum als solche identifizieren.
Zu den Unzulänglichkeiten der Diagnostik zählt vor allem die intraorale Okklusionsprüfung, die in einem separaten Betrag beschrieben wird. Sie ist deswegen unzulänglich, weil geeignete Mittel für eine solche Prüfung zur Verfügung stehen, man sie aber nicht nutzt. Analog gilt das für die Palpation des Musculus pteryoideus lateralis, sofern man in einer Funktionsuntersuchung darauf verzichtet. Und es gehört ein mangelndes Verständnis für die Mechanismen einer Funktionsstörung dazu, beispielsweise der Zusammenhang zwischen Bruxismus, Okklusion und CMD und das Phänomen der Selbstüberprüfung. Viele Veröffentlichungen tragen sehr wenig dazu bei, diese Mechanismen zu erhellen und stiften eher Verwirrung als Klarheit.
Einige der Schmerzbilder, bei denen ein funktioneller Einfluss falsch eingeschätzt werden kann, wurden schon aufgezählt. Doch es gibt weitere: Die durch eine Selbstüberprüfung nach einer zahnärztlichen Behandlung ausgelöste parodontale Überlastung kann mit jeder Form von Nachbeschwerden verwechselt werden. Dazu gehört eine Fühligkeit, eine Kaltempfindlichkeit und eine leichte Perkussionsempfindlichkeit. Allzu häufig werden diese Symptome einer Reizung durch die Behandlung oder den vermeintlich offenen Dentinkanälchen zugeordnet. Sogar die Aufbissempfindlichkeit nach einer Wurzelbehandlung kann im Einzelfall überwiegend auf eine Überlastung durch einen autoexplorativen Bruxismus zurückgeführt werden. Und natürlich kann auch an einer Zahnhalsüberempfindlichkeit eine funktionelle Überlastung beteiligt sein.
Hellhörig sollte der Behandler sein, wenn der Patient über Beschwerden berichtet, die über einen längeren Zeitraum kommen und gehen, schwer zu beschreiben sind und sich nicht eindeutig lokalisieren lassen. In der Mehrzahl der Fälle wird die Ursache ein episodischer, durch Stressphasen ausgelöster Bruxismus sein. Ähnlich verhalten sich völlig unspezifische Beschwerden, die auf ein einzelnes Stressereignis zurückzuführen sind. Oftmals wird der Verdacht nur deshalb auf eine CMD gelenkt, weil die erhobenen Befunde sich nicht mit anderen Beschwerden wie diejenigen bei einer Pulpitis in Einklang bringen lassen und weil das potentiell auslösende Ereignis anamnestisch erfragt werden kann.
Dann gibt es noch die funktionellen Beschwerden, die mit einem anderen Schmerz vergesellschaftet sind. Wenn der Patient über Ischiasschmerzen berichtet, die ihm schlaflose Nächte bereiten, lässt sich der Zusammenhang zu seinem schmerzhaften Kiefergelenk ziemlich leicht herstellen. Sehr viel intransparenter ist die Situation, wenn eine Schleimhautverletzung vorliegt und gleichzeitig eine heftige Myalgie des Musculus pterygoideus lateralis nachgewiesen werden kann. Welchen Anteil am Schmerzgeschehen hat die Verletzung, welchen die Myalgie? Dabei hat eine ausgeprägte Myalgie aufgrund ihrer Symptomatik auch das Potential, mit einem apikalen Geschehen der oberen Molaren oder einer Sinusitis verwechselt zu werden.
Insgesamt ist festzuhalten, dass funktionelle Beschwerden oft verkannt werden und daher sehr viel häufiger auftreten, als allgemein angenommen wird. Das wäre ein wichtiger Grund, das Verständnis für das Funktionsgeschehen stärker in den Mittelpunkt zu rücken.